Die Hölle des kleinen Martin 
 

Von Satanisten missbraucht und gefoltert:

Die Odyssee eines Opfers durch Behörden- und Ärztedschungel 
 

 

Von unserem Redaktionsmitglied Detlef Drewes 
 

© Augsburger Allgemeine, 21. Oktober 2000 
 
 

"Mama, du hast mein Leben gerettet. Auch wenn ich mit einem Messer hinter dir gestanden habe. Du hast mir gezeigt, was es heißt zu fühlen." Martin (der Name ist, wie viele Details, geändert, um ihn und alle Beteiligten nicht zu gefährden, obwohl alle Einzelheiten der Redaktion vorliegen) schreibt diese Sätze im Mai 2000 an die Frau, die nicht seine Mutter ist, die ihn aber 1989 als ihr Kind aufgenommen hat. Da war Martin sieben und hatte die Hölle hinter sich. Wie viel von der Hölle Martin gesehen hatte, konnte die Pflegemutter damals nicht ahnen. Heute weiß sie es. Rückblende. Martin wird 1981 als erstes Kind einer minderjährigen Alkoholikerin geboren. Vier Jahre später inzwischen hat er zwei Schwestern unterschreibt die leibliche Mutter eine Erklärung, sie wolle mit den Kindern nichts mehr zu tun haben. Martin landet in einem Heim, die Schwestern werden zur Adoption freigegeben. Große Zerstörungswut Drei Jahre später, Martin ist sieben Jahre alt, bringt man ihn in die

Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Köln. Der Grund: mehrere Selbstmordversuche, Suiziddrohungen, Anfälle großer Zerstörungswut. Aber niemand kann sich erklären, was mit dem Kind los ist. Der Bub wird in ein anderes Heim verlegt, wo er die unverheiratete Pflegemutter (hier fortan als Mutter bezeichnet) über eine Adoptionsvermittlungsstelle der Diakonie kennen lernt. Die neue Mutter, bewusst für den schreckhaft Männer meidenden Jungen ausgewählt, erfährt nicht, was mit Martin passiert ist. In der Pflegefamilie gehen die Zerstörungsanfälle weiter, man nimmt von einer Adoption Abstand, damit die Therapie, die Kosten der Zerstörungswut und der besondere Bedarf des kranken Buben von öffentlicher Hand getragen werden können.

Es beginnt Teil zwei des Martyriums. Noch immer ahnt niemand, was mit Martin geschehen ist. Fest steht nur, dass er umfangreiche therapeutische und juristische Hilfe bräuchte. Die Mutter erzählt: "Nachdem Martin versucht hatte, mich mit einem Hammer zu erschlagen, bat ich mehrere Kliniken verzweifelt um Notaufnahme." Doch weder im näheren noch im weiteren Umkreis des Wohnortes der Familie in Norddeutschland ist ein Krankenhaus bereit, das Kind aufzunehmen. Der Zehnjährige wird zwangsweise in eine geschlossene psychiatrische Klinik für Erwachsene eingewiesen. Wenige Tage später verlässt er das Krankenhaus wieder, weil sich dort ein verwirrter Mann in sein Bett gelegt hat. In den nächsten Jahren ändert sich nichts. Martin wird immer wieder für einige Tage in Kliniken Not eingewiesen, wenn er sich oder andere in Lebensgefahr bringt, etwa mit Feuer oder Messern. Man gibt ihm Psychopharmaka, die nicht helfen. Längst ist der Verdacht aufgetaucht, dass er sexuell missbraucht wurde. Aber kann das alles sein? 1994 wird die Vermutung laut, Martin könne als Folge schwerster Traumatisierungen in der Kindheit unter Multipler Persönlichkeitsstörung leiden.

Da sagt ein betreuender Arzt: "Wenn es das ist, kann ich Martin nicht therapieren." Niemand in Deutschland kann das 1994. Die Situation eskaliert. Nach einem neuen aggressiven Anfall, bei dem die Mutter lange um ihr Leben kämpfen muss, steht fest: Martin braucht eine stationäre Langzeittherapie. Um Gefahr abzuwenden, wird der Mutter, die weiter zu dem kranken Kind steht, ein "Bodyguard" finanziert. Denn einen Therapieplatz für Martin gibt es nicht. Die zuständige Hamburger Jugendbehörde findet keine Lösung. Heute sagt die Mutter: "Ich habe damals erfolglos alle in Frage kommenden deutschen Kliniken angerufen." Zwei holländische Ärzte erklären sich bereit, den Buben zu behandeln, aber wer zahlt? Die Ersparnisse der Mutter sind längst aufgebraucht, die AOK lehnt jede Übernahme ab, die zuständige Jugendhilfe stellt sich taub. In ihrer Verzweiflung findet die Mutter Privatleute, die die Therapiekosten für den schwer kranken Martin vorfinanzieren. Bis zum Ende werden es über zwei Millionen Mark sein.

Martin kommt nach Holland. Und erst dort, unter der behutsamen Obhut zweier Kinderpsychiater, gibt seine Seele ihr Geheimnis preis. Martin wurde als Kind an verschiedenen Orten durch mehrere maskierte Personen sexuell, psychisch und physisch missbraucht. "Physisch missbraucht" bedeutet: gefoltert, an den Gliedern gefesselt und verrenkt, mit Feuer und Messern bedroht und gequält. Unter Todesdrohungen zum Schweigen gebracht überlebte er Tötungsversuche im familiären Umfeld. Martin selbst nennt beim Namen, was man langsam ahnt, als er im Juni dieses Jahres seiner Mutter schreibt: "Die Welt ist voller ~[Satanismus]~. Sie kaufen die High Society, so dass kleine Kinder nicht frei sein können." Stur gestellt Martin ist ein Opfer jener geheimen satanistischen Bünde, die nichts mit pubertären nächtlichen Mutproben auf Friedhöfen zu tun haben. Er wurde als Kind durch die Hölle der Satanisten geschickt, die Kinder foltern, vergewaltigen, ja töten. Dass es diese Szene in Deutschland gibt, wissen Beraterinnen und Berater wie die Leiterin der Kölner Fachstelle Zartbitter, Ursula Enders, aber auch Hamburger Fachleute genau. Viele aber wollen es nicht wahrhaben. Martins Geschichte ist nicht zu Ende.

In Holland hat er sich einigermaßen stabilisiert. Seine Mutter und er gehen ins Ausland, aber der Versuch, ihn vor seinen Folterern zu schützen, wird ausgerechnet von behördlicher Seite durchbrochen. Alle persönlichen Daten von Martin werden trotz Namensänderung bekannt gemacht. Dennoch kämpft die Mutter weiter, vor allem um die Übernahme der Kosten durch Stellen der öffentlichen Jugendhilfe. Aber dort, wo alle Fäden zusammenlaufen (in Hamburg), stellt man sich stur, mutet der berufstätigen Frau einen Prozess nach dem anderen zu, übergeht Einwände von Politikerinnen der Stadt, des Landes, des Bundes. Am Ende wachsen der engagierten Mutter die Ereignisse über den Kopf. Keine Rechtsschutzversicherung kommt für Pflegekinder auf; die Hamburger Behörde kümmert sich weder um Täterverfolgung noch um die Sicherheit des Buben oder Erstattung der Therapiekosten. Alle zeitlichen und finanziellen Ressourcen sind erschöpft. Martin ist heute 19, aber nach langen Klinikaufenthalten noch mit dem normalen Alltag überfordert. Die Mutter wird unterdessen im Kampf mit den Behörden zermürbt. In einem weiteren Brief schreibt Martin der Mutter: "Ich bin glücklich über deine Entscheidungen (zu mir zu stehen, d. Red.)." Aber auch: "Unser Kampf wird nie enden."

Fazit der Mutter: "Selten interessiert die Frage, was aus Kindern wird, die Opfer von sexueller Gewalt und Folter in einem organisierten Kontext wurden und überlebt haben. Sie sind ausnahmslos schwer krank. Ihnen wird verweigert, was sie unter fachlichen Gesichtspunkten brauchen: Therapie, Ermittlungen, Sicherheit." Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Hamburg e.V. erhielt 1998 laut Jahresbericht 431 Anfragen aus dem Bereich des ~[Satanismus]~ und der Rituellen Gewalt. Der über Landesgrenzen bekannte, zuständige Mitarbeiter und Kenner der Szene ist seit Anfang des Jahres arbeitslos.

Nachtrag: In einem unveröffentlichten Bericht des US-Geheimdienstes CIA wird der jährliche "Bedarf" der satanistischen Zirkel in Amerika auf rund 10 000 Kinder geschätzt. Offizielle Stellen in Deutschland können die Frage, wie sehr derartige Praktiken hierzulande verbreitet sind, nicht beantworten, weil man beim sexuellen Missbrauch rituelle oder kultische Hintergründe kaum untersucht. Martin aber gibt es. Wenigstens. Martin selber sagt: "Die machen das mit vielen Kindern." 

 

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